kunst ist kein spass
alexander jacob friebel

eine retrospektive
von texten, bildern und filmen

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Son Dureta

Die Maschine aus Hamburg landete am frühen Abend.

Sie passierte die Schleuse, einen Rucksack geschultert, ihre müden Augen suchten ihn unter den Wartenden. Ihre Blicke trafen sich, er ging ihr entgegen und umarmte sie, unsicher, berührte zärtlich ihr Gesicht. Sie küßten sich ohne Hast. Wer hatte wen vermißt. Sie war schwanger, verbarg es nicht, gefiel sich in ihrer neuen Rolle, zeigte Haut, die untere Wölbung ihres Bauches schimmerte bleich. Er nahm ihr den Rucksack ab und sie verließen nah beieinander den Flughafen. Im Restaurant redete nur sie, erzählte von Hamburg, von der Sorge ihres Vaters, von dem letzten Konzert ihrer Schwester und von anderen Dingen. Er sah sie nur an.

Als sie gemeinsam das angemietete Haus betraten, war er nervöser als noch zuvor. Er führte sie durch sämtliche Räume, sie gab den Ton an, die Richtung vor. Nachts, kein Licht irgendwo, liebten sie sich unter einem Moskitonetz, stürzten sich verzweifelt in die Dunkelheit ihrer Körper, wortlos ankämpfend gegen das Unaussprechliche. Die Nächte waren von je her etwas, das sich zwischen ihre Liebe geschoben hatte.

Eine schöne Frau ist sie, mit stolzer Zurückhaltung trägt sie ihren wachsenden Bauch zur Schau. Sie lieben sich, man möchte sich in ihrer Nähe aufhalten, um es besser spüren zu können.

Plötzlich zerreißt ein unsichtbarer Faden zwischen ihnen. Während einer Wanderung merkt sie, daß die Feuchtigkeit in ihrem Slip nicht von der Lust herrührt. Ihr Gesicht verzerrt sich, seines richtet sich an ihrem aus. Es ist ihr dritter gemeinsamer Tag auf der Insel, als sie zusammen ein Hospital nahe ihrer Unterkunft betreten. Es ist still wie am jüngsten Tag, mit Fassung versucht er ihre Angst zu bändigen. Der diensthabende Arzt multipliziert ihre Befürchtungen durch seine beruflich bedingte Gleichgültigkeit. Die Fruchtblase habe einen Riß, sagt er und veranlaßt ihren sofortigen Transport ins Krankenhaus von Palma. Ihr Geliebter fährt, gefaßt wie gelernt, zurück in ihr Urlaubsquartier und sammelt Nützliches für sie zusammen und leert währenddessen eine Flasche Wein. Gegen 1 Uhr morgens  betritt er das Krankenhaus. Er findet sie schließlich, niedergestreckt von Zweifeln, auf einem Bett, in ihrem Gesicht die Farbe des abgedunkelten Flurs, den sie teilt mit unzähligen anderen Frauen, die alle nicht wissen, was der nächste Morgen für sie bereithält. Das Stöhnen  und Ausharren junger Mütter und solcher, die es werden wollen, füllt den Raum mit Fangnetzen für ihre Hoffnungen.

Ihr Kind in Schwarz-Weiß, wie es sich wehrt. Es ist Nacht, auf dem Bildschirm kämpft ein kleiner Mensch blind gegen einen unsichtbaren Gegner, tritt mit seinen winzigen Füßen gegen die versehrte Stelle eines Ballons, der ihn umgibt. Er kann sie nicht hören und tritt und tritt.

Die werdende Mutter bekommt verschiedene Medikamente injiziert. Man bringt sie auf der Frauenstation unter. Jetzt heißt es warten. Der Mann sitzt bei ihr auf einem Stuhl zwischen ihrem Bett und dem einer anderen Frau, die einen ähnlich geschwollenen Bauch hat wie sie. Die Tage vergehen, das Echolot ihres Kindes über einen Lautsprecher ist meist das einzige Geräusch im Raum. Sie denkt nach über ihr Leben, über ihr gemeinsames Leben, über mögliche Ausgänge ihrer Beziehung, während er nachgesandte Firmenunterlagen bearbeitet. Zwischendurch macht er Spaziergänge durch die Stadt, widerwillig, kauft Mobiliar für die gemeinsame zukünftige Wohnung und betrinkt sich abends im Hotelzimmer.

Am sechsten Tag geht sie zur Toilette, er hat nicht den Mut sie davon abzuhalten, obwohl er weiß, daß es gefährlich ist. Von da an beschreitet dieser Tag seinen eigenen Weg und gibt die Zeichen für ihre gemeinsame Zukunft vor.

Am frühen Nachmittag wird ihre Tochter geboren, während er in einem Flur etwa zwanzig Meter entfernt auf und abgeht. Im Verlauf desselben Nachmittags nennt er dem jetzt verantwortlichen Arzt ihren neuen Namen und darf sie bald darauf besuchen, alleine.

Es folgt eine Zeit, die mir schwerfällt zu beschreiben.

Die Beiden, Mama und Papa, dürfen ihre Tochter täglich zweimal zwanzig Minuten sehen, einmal am späten Vormittag und dann am Nachmittag. Sie liegt in einem Brutkasten, Kanülen stecken in ihrer Kopfhaut, ein Schlauch in ihrer Nase. Sie wird beatmet und über ihren winzigen Schädel mit Medikamenten versorgt. Alle Gespräche mit dem verantwortlichen Arzt führt der Papa, weil er dessen Sprache passabel beherrscht.

Aber was bedeuten zwanzig Minuten, wenn man dann die Stunden, die vergehen müssen bis zu den nächsten zwanzig Minuten, zu füllen versucht mit etwas anderem als Angst.

Man sieht sie oft lange sitzen auf einer Bank im Hof des Krankenhauses. Sie reden nicht viel. Sie können sich ihre Gedanken nicht erzählen, zu zerbrechlich ist der kurze Frieden zwischen ihnen.

Alle zwanzig Minuten mit ihrer Tochter bringen neue Botschaften mit sich. Am vierten Tag uriniert das kleine Mädchen zum ersten Mal in ihrem Leben. Die Freude darüber ist verhalten. Am fünften Tag wird der Lungentubus entfernt, zu früh, wie sich dann herausstellt. Man setzt ihn wieder ein. Ihr Zustand verschlechtert sich. Am sechsten Tag gehen die Beiden in die Kathedrale um für ihr Kind zu beten, darum zu bitten, daß sie erneut pinkeln möge.

Man läßt sie nicht zu ihr am darauffolgenden Tag. Sie warten schweigend in ihrem Hotelzimmer und starren das Telefon an. Am Abend klingelt es dann. Sie dürfen bei ihr sein in den letzten Stunden ihres kurzen Lebens. Ihre kleine Brust hebt und senkt sich im Rhythmus des Beatmungsgerätes.

An einem Mittwoch nehmen sie Abschied von ihr, bevor das kleine Stückchen Mensch verbrannt wird. Sie liegt aufgebahrt in einem winzigen weißen Holzsarg in der Kapelle des Krematoriums.

An einem Dienstag kam sie zur Welt, an einem Donnerstag wird ihre Asche über den Felsen, die hinunter ragen bis hinein ins Meer,

dem Wind übergeben.

Das Paar fährt nach Hause, in ein Zuhause, in dem Dinge stehen, die jetzt keine Funktion mehr haben.

angst

das thema heisst angst und indem ich den satz schreibe, merke ich dass sich sofort etwas dagegen sträubt dies weiter zu verfolgen

wo taucht sie überall auf die angst?

als kind in situationen, in denen ich bedürfnisse hatte, von denen ich annahm, dass sie von meinen eltern nicht erfüllt werden wollten aber die angst war nicht die angst vor dem nein, sondern vor dem gefühl dahinter, vor der ablehnung, vor dem liebesentzug, vor der unharmonie dass ich dann sehr früh anfing, heimlich, unerlaubt aber unvollständig zu befriedigen und damit eine wesentlich grössere unharmonie provozierte, ist ein absurdes damals nicht realisiertes detail

ich finde kein authentisches gefühl dieser zeit, ich habe jegliche reflexion ausgeblendet ich vermag noch nicht zu sagen, warum ich um des friedens willen nicht auf diese vorgeblichen bedürfnisse verzichten konnte/wollte ich hatte grosse angst vor den abfuhren meiner mitschülerinnen deshalb habe ich ihnen stets bis zur 15 nur schriftlich mitgeteilt, was ich empfand, ohne mich zweifelsfrei zu erkennen zu geben 

keine von ihnen, es waren katja rieger, barbara braden, ursula…hat je ein wort darüber verloren ich hatte angst vor konflikten mit mitschülern wie johannes bollen, ralf schüller, uwe gerlach, ich habe mich nicht verteidigt, ich habe ihre anmachen geschluckt ohne mich zu wehren und empfand grosses mitgefühl für die in der klasse, denen es genauso erging, ralf brand und …thelen prüfungen haben mir nie angst gemacht, genauso wenig wie all die verbotenen dinge, die ich im laufe der jahre austestete, fahren ohne führerschein, klauen, einbrechen, 

geldklauen bei meinen eltern hat mich nur am anfang beschämt geschämt habe ich mich als ich im supermarkt beim klauen erwischt wurde bzw.als man uns nachts aufgegriffen hatte und zu hause ablieferte grenzenlose angst hatte ich kurz vor einem zu haltenden referat über marcel breuer bei den kunsthistorikern
ähnlich gross war die angst in den tagen bevor ich corinna zurückerwartete um mich von ihr zu trennen 

angst hatte ich als ich vergeblich auf andreas s. wartete, um mich bei ihm zu entschuldigen, dafür dass ich mit seiner freundin herumgemacht hatte, ähnlich dem warten auf henrik, um meine liebe zu corinna ihm gegenüber zu erklären und ihn um verständnis zu bitten angst hatte ich davor mit der ariane ein kind zu haben, einen weg finden zu müssen, um das gemeinsam zu schaffen, was mir bis jetzt noch nicht gelungen ist 

angst hatte ich vor der suse, die vermeintlich mit recht verletzt war, weil ich das kind in ihrem bauch nicht mit ihr zusammen aufziehen wollte, 

angst auch vor der moral ihrer und meiner eltern, weil ich selbst meiner entscheidung nicht trauen konnte, nicht fühlen konnte ob ich ein recht zu dieser entscheidung habe…demzufolge ihren rachezug als verdient rechtfertigte auch angst vor der verantwortung für meinen sohn, was aber mittlerweile eher angst um seine seele geworden ist, wenn ich seine mutter erlebe 

ich lasse mich nicht auf frauengeschichten ein aus angst vor missverständnissen, aus angst vor einer situation, in der ich der frau erklären muss, dass meine gefühle nicht mit ihren übereinstimmen und in mir eine institution existiert, die das als nicht zulässig verurteilt, obwohl es ein teil von mir ist…ich versetze mich so sehr in die position der frau und versuche bis zur selbstaufgabe ihren bedürfnissen gerecht zu werden, dass meine person fast komplett untertaucht 

ich lade gerne zum essen ein und habe dann angst davor, dass es zu wenig gibt oder aber nicht schmeckt 

wenn ich hinter meinem hv-tresen stehe, habe ich angst, dass jemand kommt, der mir eine frage stellt, die ich nicht beantworten kann, obwohl es von mir als fachmann erwartet wird wenn jemand meine malerei zu sehen bekommt, habe ich ganz körperliche angst davor, dass derjenige durchschaut, wie inkompetent, dilettantisch, talentlos und banal das ist, was ich so hüte wie ein grosses geheimnis 

bei diskussionen über themen, in denen ich mich nicht zu hause fühle – und das sind fast alle themen – bzw. mit menschen, denen ich mich nicht gewachsen fühle – solche, die eloquenter oder gebildeter als ich scheinen – finde ich, meine antwort im kopf, mögliche argumente dagegen, führe sinngemäss eine interne parallel-diskussion, und enthalte mich(abwägen der möglichen züge im schach vergleichbar) angst vor anscheinend notwendiger kritik an freunden – speziell sandro – weil ich antizipiere, dass das als angriff gewertet werden könnte, was schon oft geschehen ist, und unsere freundschaft gefährden könnte…aber ich frage Sie, was ist das für eine freundschaft, die das nicht aushält wenn nicht gar braucht…wie viel halte ich von mir, dass ich so denke

angst vor Zweikämpfen beim Fußball wegen der Möglichkeit, den Ball zu verlieren und dann bei meinen Mitspielern in Ungnade zu fallen, aber großes Verständnis für Fehler anderer in diskussionen mit meinem vater fühlte ich mich früher unterlegen, was einerseits die regel sein dürfte, was in meinem fall durch den umstand potenziert wurde, dass mein vater ein eher nüchterner sachlicher geist war und ich eher emotional geleitet argumentierte, gleichzeitig seinen argumenten sehr gut folgen konnte ohne bei meinen gedanken eine vergleichbare stärke des fundamentes zu verspüren

angst, alt und älter zu werden ohne eine liebe in meiner nähe

angst, körperlich älter zu werden und mich nicht so alt zu fühlen, überhaupt angst vor dem in ein alter kommen, in dem menschen, mit denen ich zu tun haben möchte, von mir denken, das ich alt bin, wohl so etwas wie midlife-crisis, hat damit zu tun, dass ich frauen hinterher sehe, die sich sonst mit jüngeren männern umgeben ich habe angst vor krankheiten, wenn ich etwas vermute, das mit meiner lebensweise zusammenhängt, dann nehme ich das sehr ernst

ich möchte, dass mich alle liebhaben, auch die, von denen ich nur das gefühl mitnehmen möchte

angst ist sehr persönlich, schliesst die auseinandersetzung mit anderen aus, sie wurzelt in dir und löst sich auch nur dort andere dienen als platzhalter, die angst von jemandem getötet zu werden, hat nichts mit dem jemand zu tun, unwichtig, ob er eine waffe auf dich richtet oder dich überfahren will. es ist deine angst. mit der du beschäftigt bist, unabhängig davon, ob er dich tatsächlich töten will oder nicht. wenn er es tun will, tut er es unabhängig von deiner angst…wozu ist sie dann gut deine angst…was nützt sie dir, wenn du vor 100 menschen stehst und eine rede halten willst, nützt sie dir beim vermeiden von peinlichkeiten, beim redefluss, nein, sie schliesst dich aus, sie schliesst dich ein, vereinnahmt einen wesentlichen teil deiner aufmerksamkeit, sie übernimmt die kontrolle über dein gemüt, deine denkfähigkeit. gibt es eine berechtigte angst? kann angst motivieren? spontan: angst hemmt, blockiert, lähmt, verhindert..warum sollte ich vor dieser prüfung angst haben, was habe ich zu befürchten und was hilft mir meine angst beim vermeiden vom sagen falscher dinge bzw. ist sie hilfreich beim erreichen meiner ziele…ich erinnere mich an zwei situationen, in denen sie ihre berechtigung hatte, in denen ich aber auch keinen gedanken von behinderung empfand, das war die spontane angst zum schutz der eigenen person, zum schutz vor körperlicher verletzung, bzw. zum schutz vor einer möglichen festnahme

angst ist schon sehr lange mein thema, schon sehr lange eigentlich schon immer . ich weiss nicht, vielleicht habe ich noch nie gewusst, wann es angefangen hat . es muss sehr bald nach meiner geburt gewesen sein . das ist nur so ein gefühl . das ist nicht verbunden mit einer erinnerung . angst ist das thema . mit fünfzehn hab ich mir nachts das auto meines vaters oder meiner mutter ausgeliehen, das auto meines vaters war immer die grössere herausforderung, weil es schwieriger war, es unbemerkt wegzufahren/auszuleihen/zu borgen, und weil es grösser war, das war der grössere triumph im stillen, wem sollte ich davon erzählen, die, die ich beeindrucken wollte oder besser der, den ich beeindrucken wollte, war doch genau der, dem ich zuletzt davon erzählen konnte, mein vater, mein geliebter vater. und jetzt sitze ich hier, zappe durch die abteilung oper in meinem musik-gedächtnis, und suche nach dem anfang, nach dem grossen geheimnisvollen warum, was ist dir passiert, was ist der grund, was ist passiert, diese angst ist so anstrengend und so beschwerlich so elend hinderlich, und ich finde nicht den weg hinaus
warum hast du angst vor deiner grösse, warum hast du angst vor deiner liebe, warum hast du angst vor deiner familie, warum hast du angst vor deiner liebe, warum hast du angst vor deiner grenzenlosen unendlichen schmerzvollen verletzten nicht erwiderten aber von wem liebe

ich möchte nicht, dass meinem sohn das gleiche passiert

ich bin kein schlechter mensch, aber ich vertraue meinem gewissen nicht, ich misstraue meiner intuition, wenn es einen anderen menschen verletzen könnte wir haben uns beide ein kleines stück in unsere seelen schauen lassen und haben beide ein kleines sehr verstecktes stückchen seele voneinander sehen dürfen und was das schönste daran war, ist der kurze ganz kurze moment, in dem wir beide uns in dem anderen wie in einem spiegel sehen konnten mit einer ahnung von unserer schönheit ich habe gerade das gefühl, dass ich nicht frei schreibe, ich kontrolliere mich fast unbemerkt, in diesem fall achte ich darauf, dass der literarische stil effektvoll eingesetzt wird und reflektiere gleichzeitig, dass diese worte womöglich von dieser couch gelesen werden und kontrolliere schon wieder, was ich IHR schreibe

so komme ich nicht weiter, ich fliehe, ich kann nicht auf der stelle stehen, ich muss mich bewegen, ich will hier weg
3.august heute ist ein tag ohne klare vorzeichen, da ist einer aufgetaucht, der mich kritisiert hat, der mir gesagt hat, dass ich sehr streng sei, dass ich sehr schnell sei mit meiner meinungsbildung über andere warum sagt er das, hat er recht oder sucht er die flucht im angriff zu erklären, ich bin unsicher und warum bin ich unsicher, vielleicht weil er recht hat oder weil ich mit rückfragen nicht umgehen kann
er fragt sich ob ich nicht in dieser art nachfrage, weil ich keinen raum zulasse, weil ich mir anmaße, mir erlaube behauptungen aufzustellen,vorschnell ohne zu reden ohne zu reflektieren ohne mit dem opfer zu reden

entscheidend ist dabei doch dass die aussage genügt, um mich zu verunsichern, legitim, aber zu wenig, um mich in eine situation zu manövrieren, in der ich ohne grund mein gefühl, was für sich sehr stark ist, als ganzes in frage stelle es ist keine angelegenheit des geistes, es geht hier nur ganz nur um das ganze darunter
ich bin betrunken und auch nicht mehr a la mode mit meinen gedanken und wünschen, was mich zweifeln lässt an meiner lebensberechtigung

IM ABSCHIED EIN LETZTER GEDANKE
SINUSSI LEBT NICHT MEHR

ES IST JETZT SCHON EINE ZEIT HER, DAß ICH MIT MEINEM FREUND WOLFGANG IM GRABEN GESTANDEN HABE; RÜCKEN AN RÜCKEN. ALLES IN ALLEM EINE SCHÖNE ERINNERUNG. AN EINEM DIESER TAGE VERDUNKELTE SICH DER HIMMEL ÜBER UNSEREN KÖPFEN. ZU DEM SCHATTEN, DER SICH SCHRÄG ÜBER DEN SANDHÜGEL SCHOB, GESELLTE SICH EINE STIMME, LAUT, PROVOKATIV UND VERTRAUT: "LÄßT DU DICH WIEDER VON DEINEM ALTEN AUSBEUTEN?!"
WIR LIEßEN DIE SCHAUFELN SINKEN UND BLICKTEN IN DAS FRECHE GRINSEN DES NACHBARN, EINE QUALMENDE ZIGARETTE IN DEN MUNDWINKEL GEDRÜCKT. ARCHAISCH DIE GESTALT, DUNKEL ABGEHOBEN GEGEN DAS GRÜN UND BLAU DES VORGARTENS, ZÜCKTE ER BETONT LÄSSIG EINE ZIGARETTENPACKUNG AUS DER BRUSTTASCHE SEINES KAKIFARBENEN PFADFINDERHEMDES: "ZEIT FÜR NE RICHTIGE ZIGARETTE, JUNGS!" UND HIELT UNS EINLADEND EINE ZERKNAUTSCHTE ORANGE-BRAUNE PACKUNG ENTGEGEN MIT DER AUFSCHRIFT "SINUSSI".

DAS WAR VOR ZEHN JAHREN, UND ICH STEHE HIER ÜBER SEINEM GRAB UND SEHE AUF EINEN SARG HINUNTER, DER VIEL ZU KLEIN SCHEINT FÜR EINEN MANN WIE IHN. ICH MÖCHTE WEINEN, OHNE SO GENAU ZU WISSEN, UM WEN. MEINE NELKE HAT SICH UNBEMERKT ZU DEN ÜBRIGEN GESELLT. BIN ICH EHRLICH ,SO BERÜHRT MICH NICHT ALLEIN TRAUER. ICH BIN ENTTÄUSCHT. ES IST, ALS HÄTTE MAN MIR ETWAS VORENTHALTEN, ALS HÄTTE MAN MICH GENÖTIGT, DAS THEATER FÜNF MINUTEN VOR DEM VORHANG ZU VERLASSEN. DIE TRAUERNDEN HABEN MEINE EINSTUDIERTE INSZENIERUNG BOYKOTTIERT; ICH WOLLTE SIE ABSCHREITEN, EINEN NACH DEM ANDEREN, DIE WORTE WAREN ZURECHTGELEGT, WOLLTE SIE EINWEIHEN IN MEINE TRAUER, WOLLTE EIN STÜCK IHRER TRAUER AUF MEINE SEELE LEGEN UND WOLLTE IHRE DANKBARKEIT.

PLÖTZLICH EIN UNENDLICH MATTES GEFÜHL, DAS BEDÜRFNIS, MICH HIER ZU SEINEN FÜßEN HINZUSETZEN; DER STARRE BLICK AUF SEINEN MAKELLOSEN NUßHOLZSARG GERICHTET, MÖCHTE ICH AUFHÖREN ZU DENKEN, ZU WOLLEN, ZU FÜHLEN. STATTDESSEN SCHWITZE ICH INNERLICH. ICH SPÜRE DIE SALZIGEN TRÄNEN, DIE AN DER INNENSEITE MEINES AUGAPFELS HINUNTERROLLEN UND SICH IN DER MULDE DARUNTER SAMMELN. MEIN BLICK WIRD TRÜBE, DIE PUPILLEN HEBEN SICH MÜHSAM ÜBER DEN AUSGELEGTEN GIFTGRÜNEN KUNSTRASEN HINÜBER ZUM GRABSTEIN DES NACHBARN. DA IST ES WIEDER, SEIN RESPEKTLOSES GRINSEN, TANZT ZWISCHEN DEN TODESDATEN DES VERSTORBENEN, ARTHUR VON IRGENDWIE, DER SCHWARZE MARMOR DES HERRN BETRIEBSLEITER HÜLLT SICH SCHAMVOLL IN GRAUGRÜNES MOOS. ICH SEHNE MICH NACH DER ANONYMITÄT EINES MOLEKÜLS, MÖCHTE MICH VERSTECKEN IN DEN KRISTALLSTRUKTUREN DIESES GRABSTEINS.

WELCHE IRONIE: DIESER MANN HAT DIE HÄLFTE SEINES LEBENS DAFÜR EINGESTANDEN, DAß VIEL GRÖßE IM KLEINEN IST UND GROß GRUNDSÄTZLICH KLEIN GESCHRIEBEN WIRD, UND NUN SOLL SEINE SEELE FRIEDEN FINDEN DIREKT NEBEN EINEM DERER, DIE IHN SCHON IM LEBEN PROVOZIERTEN (MEIN VATER WAR SICHER EINER VON IHNEN). ER WIRD VIELLEICHT EINSEHEN MÜSSEN, DAß UNTER IHNEN AUCH MENSCHEN SIND.

DABEI FING ALLES SO GUT AN. SINUSSI HATTE EINE FRAU, EINEN HUND, EINEN SOHN UND EINE TOCHTER, EIN HAUS UND EIN FAHRRAD. ABER ER WAR NICHT GLÜCKLICH, ZUM SCHLUß. 

DAMALS, ALS DIE BÄUME AN DER GRENZE ZU DEN NACHBARN RECHTER HAND ZUM DRITTEN MAL IHRE SPROSSE TRIEBEN, BEGANNEN FREMDE MÄNNER KURZ DAHINTER, DEN RASEN AUSZUSTECHEN UND EIN GROßES LOCH ZU GRABEN FÜR DAS FUNDAMENT EINES HAUSES. KURZ ZUVOR WAR MAN AN MEINE ELTERN HERANGETRETEN UND HATTE SICH DEREN WIDERWILLIGE ZUSTIMMUNG ZUM BAU EINES ANBAUHAUSES EINGEHOLT. SIE WURDE ERTEILT, DIE ABSOLUTION. SO JEDENFALLS LAUTETE EINES DER VIELEN UNGESCHRIEBENEN GEBOTE, AN DIE MAN SICH ZU HALTEN GELERNT HATTE.

(ICH BAUE MIR EIN HAUS, SEHE HINAUS UND ERBLICKE, WAS MIR NICHT GEHÖRT.)

DIESSEITS DES ZAUNES FÜHLTE MAN SICH GUT UND SCHLECHT GLEICHERMAßEN UND WARF SKEPTISCHE BLICKE HINÜBER ZUM BENACHBARTEN GRUNDSTÜCK, WO DAS NACKTE, NOCH HÄßLICHE GEMÄUER UNBEIRRT WUCHS. DIE EINZIGE, WIRKLICH NEUGIERIGE WAR MEINE MUTTER, DIE, SO ES SICH EINRICHTEN LÄßT, KEIN MENSCHLICHES WESEN AUSLÄßT AUF DER SUCHE NACH ETWAS, VON DEM ICH NICHT GENAU SAGEN KANN, WAS ES IST. VERHALTENES ABWARTEN OHNE UNMITTELBARE STELLUNGNAHME LAUTETE DIE UNAUSGESPROCHENE ANWEISUNG -  MAN WILL JA SCHLIEßLICH KEINEN ÄRGER.

DER DANN FOLGENDE UNAUSWEICHLICHE EINZUG VERLIEF UNSPEKTAKULÄR: EINE GANZ NORMALE FAMILIE, EIN MANN, EINE FRAU, EINE TOCHTER, EIN SOHN, EIN HUND, ALLES GANZ NORMAL.

MAN BESCHNUPPERTE SICH UNAUFFÄLLIG ÜBER DEN ZAUN HINWEG, OHNE AUFREGENDES ZU ENTDECKEN.

ICH GLAUBE, DER ERSTE DIESSEITS, DER SICH FESTLEGTE, WAR MEIN VATER - WIE AUCH ANDERS. DER WORTLAUT IST MIR NICHT MEHR GEGENWÄRTIG, ABER ES LIEF AUF EINE ABURTEILUNG DES HERRN NACHBARN HINAUS, ANSICH NICHTS UNGEWÖHNLICHES, BEDENKT MAN, DAß DIESES SCHICKSAL 99% SEINER "BEDAUERNSWERTEN" MITMENSCHEN MIT MEINEM FREUND SINUSSI ZU TEILEN HABEN.

ABER AUCH DER HIELT NICHT LANGE MIT SEINER MEINUNG „VOR DEM BERG“, MIT DEM UNTERSCHIED NUR, DAß ER DIESE MEINEM ALTEN HERREN DIREKT VOR DEN KOPF KNALLTE, IN ERWARTUNGSVOLLER KAMPFSTELLUNG. ER WUßTE NOCH NICHT, DAß EIN DERART OFFENER SCHLAGABTAUSCH OHNE VORHERIGE INTELLEKTUELLE REFLEXION DES GEGENSTANDS NICHT DER STIL MEINES VATERS IST.

GOTT, WAS WEIß ICH ÜBER EINEN MANN ZU SCHREIBEN, MIT DEM MICH FAST NICHTS VERBAND, DIE GEMEINSAMEN ERLEBNISSE SPÄRLICHE SIND, WO SENTIMENTALITÄT UND DER GEDANKE, DA IST EINER GESTORBEN, DEN ICH KANNTE, MIT EINEM MAL DA SIND, ALS WÄREN SIE ALL DIE JAHRE NICHT WEIT ENTFERNT GEWESEN (JA, ICH SEHE ALLE IHRE GESICHTER, IHRE BETROFFENHEIT, IHR SELBSTLOSES MITGEFÜHL - WIE SIND SIE ALLE NUR BETROFFEN); ICH ERSCHRECKE ÜBER MEINE JAHRELANGE GLEICHGÜLTIGKEIT GEGEN EINEN MENSCHEN, DER MEIN NACHBAR WAR, UND WUNDERE MICH, UNTER DEM SCHOCK DIESER ENDGÜLTIGKEIT, WIE DIE SUMME VON ACHT ODER ZEHN JAHREN - ICH WEIß ES GAR NICHT SO GENAU - GESAMMELTER BEDEUTUNGSLOSIGKEITEN EIN GEWICHT BEKOMMT, WIE SOLCHE BEDEUTUNGSLOSIGKEITEN IN DER SUMME EINES TAGES EIN GEWICHT HABEN, DAS MICH GENAU DIESE BEDEUTUNGSLOSIGKEITEN VERMISSEN LÄßT.

ES IST SONNTAGMITTAG, IN DEN GRÜNBEKLEIDETEN BÄUMEN UNTERHALTEN SICH GLÜCKLICHE VÖGEL, DER FRÜHSTÜCKSTISCH IST GEDECKT, DER BLICK FÄLLT AUF EINE VERLASSENE BAUSTELLE, VON LINKS IST NICHTS ZU BEFÜRCHTEN, DA STEHT DIE WEIßGETÜNCHTE SCHALLMAUER, RECHTS VERHINDERT KRÄFTIGES, JUNGES, STARKVERZWEIGTES GEBÜSCH DEN ANBLICK NACHBARLICHER UNORDNUNG; DIE ZEICHEN STEHEN GUT FÜR EIN UNBESCHWERTES SONNTAGSFRÜHSTÜCK, WÄRE DA NICHT DIESE STIMME, SEINE STIMME; DA HILFT DAS DICHTESTE GESTRÜPP NICHT GEGEN, DA SCHLÄGT DER DAMPFENDE KAFFEE IN MEINER TASSE IM RHYTHMUS DER WORTE KREISRUNDE WELLEN. NICHTS WEITER IST GESCHEHEN, SINUSSI IST AUFGESTANDEN,

DIE KLEINEN AUGEN IN EINEM GROßEN UNRASIERTEN GESICHT, DIE UNBESTIMMT LÄCHELND AN MIR VORBEIFAHREN, DER HUND HINTERDREIN, WÄHREND MEIN ÖLIG-VERSCHWITZTES GESICHT SICH DER TÜCKE DES GEBRAUCHTWAGENMOTORS WIDMET,

DER GEDANKE "SCHON WIEDER" BEIM ANBLICK DES "FAHRE NICHT AUF UNSEREN WEGEN"-AUFKLEBERS AUF DER WINDSCHUTZSCHEIBE MEINES WAGENS,

DIE BELEHRENDEN MONOLOGE ÜBER DIE SCHWARZEN SCHAFE UNSERER GESELLSCHAFT UND MEINEN VATER IM BESONDEREN, DENEN ICH MICH OHNE ERNSTHAFTE GEGENWEHR AUSSETZTE, ALL DIESE BANALITÄTEN WERDE ICH NICHT MEHR ERLEBEN, ALL DIESE BANALITÄTEN WERDEN MIR FEHLEN.

IST JETZT DER MOMENT, NACH SCHULD ZU FRAGEN, GIBT ES EINE DEFINITIVE SCHULD AM FREITOD EINES MENSCHEN, IST ETWA JEDER EIN BIßCHEN SCHULDIG AM RÜCKZUG EINES ANDEREN AUS DEM LEBEN?

MEINE GEDANKEN ZUM TOD UND ZUM LEBEN IM GEGENZUG SIND SEHR UNVOLLSTÄNDIG; MEIN URTEIL WÄRE PURE ANMAßUNG; NICHT, DAß ICH GLAUBE, DIE FRAGEN ZU DIESEM GEGENSTAND KLÄREN SICH MIT ZUNEHMENDEM LEBENSALTER; ES IST DIE KONFRONTATION, DIE ERFAHRUNG BRINGT. IM GLEICHEN ATEMZUG SEI GESAGT, DAß ES ENTMÜNDIGEND UND RESPEKTLOS IST EINEM MENSCHEN GEGENÜBER, IHM DAS RECHT AUF DIE UNGETEILTE VERANTWORTUNG FÜR SEINE ENTSCHEIDUNGEN ABSPRECHEN ZU WOLLEN.

 WENIGE MOMENTE WAREN ES, IN DENEN ETWAS WIE LEBENSÜBERDRUß ÜBER MICH KAM, UND STETS BEWEGTEN SICH SÄMTLICHE GEDANKEN ZIELLOS ZWAR ABER BESTIMMT AUSSCHLIEßLICH UM MEINE PERSON. ES BEDURFTE KEINES WEITEREN MENSCHEN, UM MEINEN ÜBERDRUß ZU FÜTTERN. DESHALB MÖCHTE ICH BEHAUPTEN, DAß DER EINZIG SCHULDIGE IN DIESER FRAGE DAS LEBEN SEIN MUß.

ICH STELLE MIR VOR: EINE STERNKLARE NACHT, DER MOND HÄNGT AM HIMMEL, ALS SCHIEFE SICHEL VON DER SONNE ANGESTRAHLT, SPIEGELT SICH IN DEM BLANKGEFAHRENEN ASPHALT. ES IST UNGEWÖHNLICH STILL. ICH SEHE AUS DEM GEKIPPTEN FENSTER, ALS EINE DUNKLE GESTALT AUF EINEM DUNKLEN FAHRRAD MEIN SICHTFELD KREUZT. SINUSSI, UND WENIGE METER DAHINTER, IN MÜDEM GALOPP, DER HUND. ICH FOLGE IHM IM GEIST. EINIGE STRAßEN WEITER BREMST ER ABRUPT, DER HUND KOLLIDIERT BEINAHE MIT DEM HECK DES FAHRRADS. ICH FOLGE SEINEM BLICK. DA STEHT EIN RIESIGES WEIß-PHOSPHORESZIERENDES SCHILD AM RAND EINES WILD-WUCHERNDEN STÜCKES NATUR. GANZ OBEN STEHT IN FETTEN SCHWARZEN BUCHSTABEN "BAUHERR ALBRECHT IRGENDWIE". ICH STELLE MIR VOR, SEINE GEDANKEN DAZU: BAUHERR, EINE SCHRANKE KLAPPT NACH OBEN, AUS DER SICH DAHINTER ÖFFNENDEN SCHLEUSE WERDEN GLÜHENDE ENERGIEGELADENE KATALYSATOREN AUF SEIN ZNS ABGESCHOSSEN - KAPITALIST, BONZE, AUSBEUTER, UNTERDRÜCKUNG, RÜCKSICHTSLOSIGKEIT, UNMENSCHLICHKEIT, ZWANG, GEWALT, HAß. DER ADRENALINGEHALT SEINES BLUTES STEIGT. SEIN BLEICHES GESICHT VERFÄRBT SICH. DIE RECHTE GEHIRNHÄLFTE ÜBERNIMMT DIE FÜHRUNG VON DER LINKEN. ES IST SOWEIT. ER STEIGT AB. DAS FAHRRAD FÄLLT UND WENIG SPÄTER KRACHEND DAS BAUSCHILD. SCHWEIßPERLEN AUF SEINER STIRN. IRGENDWO GEHT EIN LICHT AN, SEIN BLICK NICHT VON DIESER WELT, MAN ERKENNT IHN. DER HUND SCHNÜFFELT NEUGIERIG AN DEM ENTWURZELTEN HOLZPFEILER, MARKIERT ROUTINIERT UND FOLGT SEINEM ERSCHÖPFTEN HERRCHEN. DER SITZT BEREITS IN EINER ROSA-FARBENEN HOLLYWOOD-SCHAUKEL, AUFGEHÄNGT AN EINEM GESTÄNGE, DAS BIS IN DIE TIEFHÄNGENDEN WOLKEN REICHT. DIE SCHAUKEL BEWEGT SICH MIT DER GEMÄCHLICHKEIT EINES MITSOMMERTAGES, SEIN BLICK FÄLLT INS LEERE, IM MUNDWINKEL DIE GEMÜTLICH QUALMENDE SINUSSI.

DENKE ICH AN IHN, SO FALLEN MIR FRAGMENTE EIN, DIE KEIN ZUSAMMENHÄNGENDES BILD ERGEBEN, MOMENTAUFNAHMEN, DIE SEIN WESEN SCHEMENHAFT WIE EIN VON SÄURE ZERFRESSENES BAUMWOLLKLEID ERSCHEINEN LASSEN.

OB ER SINGT, WENN ER UNTER DER DUSCHE STEHT, OB ER NACHTS IM SCHLAF SEIN GESÄß ENTSPANNT UND LEISE TÖNE, GEDÄMFT DURCH DAS PLUMEAU, NACH AUßEN DRINGEN, EIN MENSCH IST ER ALLEMAL.

WOLFGANG SITZT ENTSPANNT AUF DEM BETRÄCHTLICHEN SANDHAUFEN, DIE SCHWEIßTROPFEN AUF SEINER STIRN ZU SALZKRÜMELN KONDENSIERT, DER MIßTRAUISCHE BLICK NACH OBEN GERICHTET, ICH STEHE IM GRABEN, KOPF UND HÄNDE AUF DIE SCHAUFEL GESTÜTZT, EINE ECHTE SINUSSI IM MUND, DER SCHWEIß BRENNT MIR IN DEN AUGEN, SCHMUNZELND HÖRE ICH, WAS ER UNS ZU SAGEN HAT. ER SCHEINT SICH ZU GEFALLEN IN DER ROLLE VON EINEM, DER DINGE ERLEBT HAT, DIE UNS STAUNEN MACHEN MÖCHTEN. ER ERZÄHLT VON LIBYEN ODER ALGERIEN, ICH WEIß ES HEUTE NICHT MEHR  - SEINE GESCHICHTEN HATTEN STETS DIE LEICHTIGKEIT UND VERGÄNGLICHKEIT VON INSEKTEN, DIE MAN WAHRNIMMT, OHNE IHNEN EINEN PLATZ IM GEDÄCHTNIS EINZURÄUMEN - SIE WAREN DAMALS - ER NANNTE EINE JAHRESZAHL - AUF MONTAGE UNTEN. SEINE FIRMA - ER NANNTE EINEN NAMEN - HATTE DEN AUFTRAG ERHALTEN, RIESIGE TURBINEN FÜR EIN WASSERKRAFTWERK ZU INSTALLIEREN. EINE GEHIRNERWEICHENDE, EINE UNMENSCHLICHE HITZE ÜBER WOCHEN, SAND, WÜSTE UND PERMANENT DER WIND VOM MEER HER, DER MIT KLEINEN SANDKÖRNCHEN BEWAFFNET IHRE GESICHTER RAUH SCHMIRGELTE. ZU DER ZEIT HATTE ER ANGEFANGEN, SINUSSI ZU RAUCHEN.

ER GRINSTE UND VERABSCHIEDETE SICH MIT DEN WORTEN "LAßT EUCH NICHT AUSBEUTEN".

ICH WEIß NICHT, WAS AN DER GESCHICHTE DRAN IST, DAS SCHEINT MIR AUCH NICHT WICHTIG. DIE FOLGENDEN STUNDEN IM GRABEN JEDENFALLS HATTEN AN LEICHTIGKEIT GEWONNEN UND IN EINER DER NÄCHSTEN ZIGARETTENPAUSEN WAR DER NEUE NAME FÜR EINEN NICHT ALLTÄGLICHEN NACHBARN GEBOREN: SINUSSI. 

ES BLIEB NICHT DAS EINZIGE ERLEBNIS, DAS IHN ALS WUNDERLICHEN MENSCHEN ERSCHEINEN LIEß. ER WAR ANDERS ALS DIE ANDEREN NACHBARN. ER HIELT NICHT DEN MUND UND AKZEPTIERTE AUCH NICHT SCHEINBAR UNVERMEIDLICHES. WENN ICH ERFUHR, DAß ER AUF DEM BENACHBARTEN GELÄNDE DAS BAUSCHILD ABGERISSEN HATTE, WAR DER ERSTE GEDANKE, KLAR, SINUSSI. FÜR MICH WAR DIESER MANN EINE ART NAIVER ODER BESSER UNBEIRRBARER ROBIN HOOD, IRGENDWIE IN DIE FALSCHE ZEIT HINEINGERATEN.

HAT ER AM ENDE VOR DER REALITÄT KAPITULIERT?

WO WAR DA DER GROßE BRUDER, DER DEN ARM UM SEINE SCHULTER LEGT IN SOLCHEM AUGENBLICK UND SEINE VERLETZTE SEELE MIT DEN RICHTIGEN WORTEN BESÄNFTIGT - ICH GLAUBE, DAS VERTRAUEN BESITZT NUR EIN BRUDER.

SINUSSI WAR KEIN SCHLECHTER MENSCH, ER HATTE VIELLEICHT DAS UNGLÜCK, IN DIESER GESELLSCHAFT SEINEN PLATZ FINDEN ZU WOLLEN, FÜR EINEN SENSIBLEN UND IDEALISTISCHEN MENSCHEN EIN SCHMERZVOLLER HÜRDENREICHER WEG, UND KEINER, DER IHM HELFEN KANN, ODER?

WAS MAN IHM VORWERFEN WIRD, IST SEINE BRUTAL ANMUTENDE ART, JEDEN MENSCHEN MIT SEINER EIGENWILLIGKEIT ZU KONFRONTIEREN, WAS VON DEN MEISTEN ALS UNREIFE UND RESPEKTLOSIGKEIT MIßVERSTANDEN WURDE, WOBEI ICH DENKE, DAß DAS GEGENTEIL ZUTRAF. KEINEN UNSERER NACHBARN HABE ICH SO BEDENKENLOS UM EINEN GEFALLEN BITTEN KÖNNEN WIE DIESEN MANN.

ICH WILL KEIN DENKMAL BAUEN, DAZU REICHT MEINE SYMPATHIE UND WERTSCHÄTZUNG NICHT AUS, DAZU IST SCHLICHT ZU WENIG ÜBRIGGEBLIEBEN,   DENNOCH IST ES AUCH WIEDER ZUVIEL, UM SICH WORTLOS ABZUWENDEN UND ZU VERGESSEN, OHNE EINEN LETZTEN GEDANKEN IN SEINER VOLLSTÄNDIGKEIT ZU EINEM ERLÖSENDEN ENDE GETRAGEN ZU HABEN, ERLÖSEND, WEIL DANACH KEIN GEDANKE MEHR IST, DER SICH IMMER WIEDER AUFDRÄNGT, ALS WOLLTE ER SAGEN, DIESE SACHE IST NOCH NICHT BEENDET WORDEN.

STEIGE ICH MORGENS IN MEIN AUF DEM BÜRGERSTEIG GEPARKTES AUTO, FÄLLT MEIN BLICK UNWILLKÜRLICH AUF DEN RECHTEN AUßENSPIEGEL, IN DER ERWARTUNG DES ANBLICKES EINES HÄßLICHEN BLAU-WEIßEN PAPIERS MIT DER DROHENDEN AUFSCHRIFT "FAHRE NICHT AUF UNSEREN WEGEN" UND IM SELBEN AUGENBLICK DER GEDANKE "WIE SOLLTE DENN...".

ICH STELLE MIR VOR, ETWAS NASSES FÄLLT MIR VON OBEN AUF DEN KOPF, ICH BLICKE ZUM HIMMEL UND SEHE (NICHT), DAß DER HERR INGENIEUR DASTEHT AUF EINER WOLKE, EIN SPITZBÜBIGES LÄCHELN IM ZWEITAGEBART AUF MICH HERUNTERWIRFT UND IN DER KRÄFTIGEN RECHTEN, DIE VORMALS TURBINEN MONTIERTE, EINE QUALMENDE SINUSSI HÄLT.

SINUSSI LEBT NICHT MEHR. ER HAT ÜBER DEN SCHMERZ DIE ANGST VOR DEM TOD ÜBERWUNDEN.

ODER WAR AM ENDE ALLES GANZ ANDERS?

ICH HOFFE, DEINE KINDER WERDEN DICH IRGENDWANN VERSTEHEN. LEB WOHL...

Claude Narbonne

Um diese Zeit hat sich die Sonne längst hinter die Berge im Westen geschoben. Das Meer vor ihm glänzt schwach, wie von einer feinen tiefroten Lasur überzogen. Er sitzt an seinem breiten Schreibtisch, starrt über seine Lesebrille hinaus auf das Meer, ihn fröstelt, den gußeisernen Holzofen auf der Rückseite seines Arbeitszimmers hat er gerade erst angefeuert, über sich hört er die Schritte von Signora Grazia, seiner Haushälterin. Seit dem Tod seiner Frau kommt sie täglich für ein paar Stunden, um für ihn zu kochen und das Haus zu besorgen. Hier unten erscheint sie nur, wenn er sie darum bittet, wenn der Raum im Chaos zu versinken droht, dabei stehen nur notwendige Möbel darin, ein deckenhohes langes Bücherregal an der Ostseite, gegenüberliegend ein schmales Bett; dort verbringt er die Nächte, in denen er zuviel Rotwein getrunken hat, um noch die steile Treppe hinauf in sein Schlafzimmer zu besteigen. Neben dem Schreibtisch ist die Kompaktanlage, die noch aus seiner Zeit in Deutschland stammt, nebst Schallplatten und Kassetten in einem Musikschrank von der Art, wie sie in den Achtzigern üblich waren, untergebracht. Aus zwei kleinen schwarzen Boxen, links und rechts neben dem Schrank, hört man leise Musik. Das eigentliche Chaos entsteht durch Papierbögen, die überall im Zimmer verteilt umherliegen. Es sind Zeichnungen, Skizzen von Gesichtern, manche sind in Bücher geklemmt, die im Regal stehen, einige liegen auf dem Bett oder auf dem Boden, immer wieder Zeichnungen von dem Gesicht eines Menschen, festgehalten in den verschiedenen Momenten seines Lebens. Auf dem Schreibtisch liegen sie in mehreren Lagen übereinander. Dazwischen steht die halbvolle Weinflasche und ein Glas mit einer dunklen Pfütze darin. Er steht auf, sein ungewaschenes Haar wellt sich im Nacken nach außen. Sein Blick fliegt über die Blätter am Boden, sein Gesicht, grauer noch durch die mehrtägigen Bartstoppeln, wirkt wie in Bronze gegossen. Das Glas füllt er nach, der Wein tropft auf ein Gesicht wie Tränen, entzündet mit einem Streichholz den Zigarrenstumpen zwischen seinen Lippen und tritt barfüßig auf die Terrasse hinaus. Ein kurzer Blick nach oben bestätigt ihm: sie ist gegangen.

Einmal nach Westen, einmal nach Osten, so beschreitet er, an seinem Stumpen saugend, das Gelände, bleibt dann stehen, wendet sich zum Meer hin und nimmt einen großzügigen Schluck von dem Wein. Hinter ihm taucht die Schreibtischlampe die holzvertäfelten Wände in wohlige Wärme, während am Boden Dutzende von Zeugen stumm dagegen aufbegehren. Dazwischen liegen Briefe seiner Mutter, mit Tinte geschrieben, liebevoll an ihn gerichtet zu der Zeit, als er das elterliche Lourdes verlassen hatte. Briefe, die von Sehnsucht und dem täglichen Leben erzählen, die um Verzeihung bitten, um Vergebung für den Vater, für seinen Vater. Und immer wieder dieses Gesicht, sein Gesicht mit Vierzig, sein Gesicht mit Fünfzig und sein Gesicht nach dem Tod, das er noch einmal gesehen hatte, nach so vielen Jahren. Damals, am offenen Sarg in der Kapelle von Lourdes, war es auch die letzte stumme Begegnung mit seinem Sohn. Beide hatten in ihrer kindlichen Bedürftigkeit eine Generation überspringen müssen, um so etwas wie einen Vater zu finden, der ältere, weil er nicht erwünscht war, der jüngere, weil er den Platz nicht füllen konnte, der ihm zugedacht war.

Eine weitere Flasche hat er geöffnet, füllt das Glas erneut, nimmt eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Bücherregal, eine junge Frau mit traurigen Augen, legt ihren linken Arm um einen Jungen an ihrer Seite, rechts neben ihr der Vater, die Arme vor der Brust verschränkt. Die Musik ist jetzt lauter, es ist Wagner. Die Kohle in seiner Hand fliegt wild über das Papier, der Vater mit fünfunddreißig. Die Fotografie steht vor ihm auf dem Fensterbrett. Im Maße, in dem sich die Weinflasche leert, füllen sich die Blätter mit Kohlenstaub, klagen an, flehen.

Wagner dröhnt immer noch aus den kleinen schwarzen Boxen, als die Hände zur Ruhe kommen. Sie liegen wie nutzlos auf dem Schreibtisch, kohlegeschwärzt, als trügen sie Trauer. Sein Oberkörper zittert, schüttelt sich, sein Gesicht verzerrt sich zur Grimasse, die tränenlosen Augen starren auf das Schlachtfeld des heutigen Abends. Ein einsamer Parsifal auf der Suche nach seinem Gral.

zum gedenken an luciano pavarotti (2007)stadtlandflusskunst ist kein spassZweistaat-Experimentfreedom's just another wordbi lanateneriffajohnnywas ist der sinn von glück?provoziere nächste woche deinen nachbarn nicht ohne systemglückskeks 2009funeral bluesfuneralle blocage du beau culamoris causapolen1994zweistaatenblatt"rocket man"for john-alexander

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