Claude Narbonne

Um diese Zeit hat sich die Sonne längst hinter die Berge im Westen geschoben. Das Meer vor ihm glänzt schwach, wie von einer feinen tiefroten Lasur überzogen. Er sitzt an seinem breiten Schreibtisch, starrt über seine Lesebrille hinaus auf das Meer, ihn fröstelt, den gußeisernen Holzofen auf der Rückseite seines Arbeitszimmers hat er gerade erst angefeuert, über sich hört er die Schritte von Signora Grazia, seiner Haushälterin. Seit dem Tod seiner Frau kommt sie täglich für ein paar Stunden, um für ihn zu kochen und das Haus zu besorgen. Hier unten erscheint sie nur, wenn er sie darum bittet, wenn der Raum im Chaos zu versinken droht, dabei stehen nur notwendige Möbel darin, ein deckenhohes langes Bücherregal an der Ostseite, gegenüberliegend ein schmales Bett; dort verbringt er die Nächte, in denen er zuviel Rotwein getrunken hat, um noch die steile Treppe hinauf in sein Schlafzimmer zu besteigen. Neben dem Schreibtisch ist die Kompaktanlage, die noch aus seiner Zeit in Deutschland stammt, nebst Schallplatten und Kassetten in einem Musikschrank von der Art, wie sie in den Achtzigern üblich waren, untergebracht. Aus zwei kleinen schwarzen Boxen, links und rechts neben dem Schrank, hört man leise Musik. Das eigentliche Chaos entsteht durch Papierbögen, die überall im Zimmer verteilt umherliegen. Es sind Zeichnungen, Skizzen von Gesichtern, manche sind in Bücher geklemmt, die im Regal stehen, einige liegen auf dem Bett oder auf dem Boden, immer wieder Zeichnungen von dem Gesicht eines Menschen, festgehalten in den verschiedenen Momenten seines Lebens. Auf dem Schreibtisch liegen sie in mehreren Lagen übereinander. Dazwischen steht die halbvolle Weinflasche und ein Glas mit einer dunklen Pfütze darin. Er steht auf, sein ungewaschenes Haar wellt sich im Nacken nach außen. Sein Blick fliegt über die Blätter am Boden, sein Gesicht, grauer noch durch die mehrtägigen Bartstoppeln, wirkt wie in Bronze gegossen. Das Glas füllt er nach, der Wein tropft auf ein Gesicht wie Tränen, entzündet mit einem Streichholz den Zigarrenstumpen zwischen seinen Lippen und tritt barfüßig auf die Terrasse hinaus. Ein kurzer Blick nach oben bestätigt ihm: sie ist gegangen.

Einmal nach Westen, einmal nach Osten, so beschreitet er, an seinem Stumpen saugend, das Gelände, bleibt dann stehen, wendet sich zum Meer hin und nimmt einen großzügigen Schluck von dem Wein. Hinter ihm taucht die Schreibtischlampe die holzvertäfelten Wände in wohlige Wärme, während am Boden Dutzende von Zeugen stumm dagegen aufbegehren. Dazwischen liegen Briefe seiner Mutter, mit Tinte geschrieben, liebevoll an ihn gerichtet zu der Zeit, als er das elterliche Lourdes verlassen hatte. Briefe, die von Sehnsucht und dem täglichen Leben erzählen, die um Verzeihung bitten, um Vergebung für den Vater, für seinen Vater. Und immer wieder dieses Gesicht, sein Gesicht mit Vierzig, sein Gesicht mit Fünfzig und sein Gesicht nach dem Tod, das er noch einmal gesehen hatte, nach so vielen Jahren. Damals, am offenen Sarg in der Kapelle von Lourdes, war es auch die letzte stumme Begegnung mit seinem Sohn. Beide hatten in ihrer kindlichen Bedürftigkeit eine Generation überspringen müssen, um so etwas wie einen Vater zu finden, der ältere, weil er nicht erwünscht war, der jüngere, weil er den Platz nicht füllen konnte, der ihm zugedacht war.

Eine weitere Flasche hat er geöffnet, füllt das Glas erneut, nimmt eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Bücherregal, eine junge Frau mit traurigen Augen, legt ihren linken Arm um einen Jungen an ihrer Seite, rechts neben ihr der Vater, die Arme vor der Brust verschränkt. Die Musik ist jetzt lauter, es ist Wagner. Die Kohle in seiner Hand fliegt wild über das Papier, der Vater mit fünfunddreißig. Die Fotografie steht vor ihm auf dem Fensterbrett. Im Maße, in dem sich die Weinflasche leert, füllen sich die Blätter mit Kohlenstaub, klagen an, flehen.

Wagner dröhnt immer noch aus den kleinen schwarzen Boxen, als die Hände zur Ruhe kommen. Sie liegen wie nutzlos auf dem Schreibtisch, kohlegeschwärzt, als trügen sie Trauer. Sein Oberkörper zittert, schüttelt sich, sein Gesicht verzerrt sich zur Grimasse, die tränenlosen Augen starren auf das Schlachtfeld des heutigen Abends. Ein einsamer Parsifal auf der Suche nach seinem Gral.