Son Dureta

Die Maschine aus Hamburg landete am frühen Abend.

Sie passierte die Schleuse, einen Rucksack geschultert, ihre müden Augen suchten ihn unter den Wartenden. Ihre Blicke trafen sich, er ging ihr entgegen und umarmte sie, unsicher, berührte zärtlich ihr Gesicht. Sie küßten sich ohne Hast. Wer hatte wen vermißt. Sie war schwanger, verbarg es nicht, gefiel sich in ihrer neuen Rolle, zeigte Haut, die untere Wölbung ihres Bauches schimmerte bleich. Er nahm ihr den Rucksack ab und sie verließen nah beieinander den Flughafen. Im Restaurant redete nur sie, erzählte von Hamburg, von der Sorge ihres Vaters, von dem letzten Konzert ihrer Schwester und von anderen Dingen. Er sah sie nur an.

Als sie gemeinsam das angemietete Haus betraten, war er nervöser als noch zuvor. Er führte sie durch sämtliche Räume, sie gab den Ton an, die Richtung vor. Nachts, kein Licht irgendwo, liebten sie sich unter einem Moskitonetz, stürzten sich verzweifelt in die Dunkelheit ihrer Körper, wortlos ankämpfend gegen das Unaussprechliche. Die Nächte waren von je her etwas, das sich zwischen ihre Liebe geschoben hatte.

Eine schöne Frau ist sie, mit stolzer Zurückhaltung trägt sie ihren wachsenden Bauch zur Schau. Sie lieben sich, man möchte sich in ihrer Nähe aufhalten, um es besser spüren zu können.

Plötzlich zerreißt ein unsichtbarer Faden zwischen ihnen. Während einer Wanderung merkt sie, daß die Feuchtigkeit in ihrem Slip nicht von der Lust herrührt. Ihr Gesicht verzerrt sich, seines richtet sich an ihrem aus. Es ist ihr dritter gemeinsamer Tag auf der Insel, als sie zusammen ein Hospital nahe ihrer Unterkunft betreten. Es ist still wie am jüngsten Tag, mit Fassung versucht er ihre Angst zu bändigen. Der diensthabende Arzt multipliziert ihre Befürchtungen durch seine beruflich bedingte Gleichgültigkeit. Die Fruchtblase habe einen Riß, sagt er und veranlaßt ihren sofortigen Transport ins Krankenhaus von Palma. Ihr Geliebter fährt, gefaßt wie gelernt, zurück in ihr Urlaubsquartier und sammelt Nützliches für sie zusammen und leert währenddessen eine Flasche Wein. Gegen 1 Uhr morgens  betritt er das Krankenhaus. Er findet sie schließlich, niedergestreckt von Zweifeln, auf einem Bett, in ihrem Gesicht die Farbe des abgedunkelten Flurs, den sie teilt mit unzähligen anderen Frauen, die alle nicht wissen, was der nächste Morgen für sie bereithält. Das Stöhnen  und Ausharren junger Mütter und solcher, die es werden wollen, füllt den Raum mit Fangnetzen für ihre Hoffnungen.

Ihr Kind in Schwarz-Weiß, wie es sich wehrt. Es ist Nacht, auf dem Bildschirm kämpft ein kleiner Mensch blind gegen einen unsichtbaren Gegner, tritt mit seinen winzigen Füßen gegen die versehrte Stelle eines Ballons, der ihn umgibt. Er kann sie nicht hören und tritt und tritt.

Die werdende Mutter bekommt verschiedene Medikamente injiziert. Man bringt sie auf der Frauenstation unter. Jetzt heißt es warten. Der Mann sitzt bei ihr auf einem Stuhl zwischen ihrem Bett und dem einer anderen Frau, die einen ähnlich geschwollenen Bauch hat wie sie. Die Tage vergehen, das Echolot ihres Kindes über einen Lautsprecher ist meist das einzige Geräusch im Raum. Sie denkt nach über ihr Leben, über ihr gemeinsames Leben, über mögliche Ausgänge ihrer Beziehung, während er nachgesandte Firmenunterlagen bearbeitet. Zwischendurch macht er Spaziergänge durch die Stadt, widerwillig, kauft Mobiliar für die gemeinsame zukünftige Wohnung und betrinkt sich abends im Hotelzimmer.

Am sechsten Tag geht sie zur Toilette, er hat nicht den Mut sie davon abzuhalten, obwohl er weiß, daß es gefährlich ist. Von da an beschreitet dieser Tag seinen eigenen Weg und gibt die Zeichen für ihre gemeinsame Zukunft vor.

Am frühen Nachmittag wird ihre Tochter geboren, während er in einem Flur etwa zwanzig Meter entfernt auf und abgeht. Im Verlauf desselben Nachmittags nennt er dem jetzt verantwortlichen Arzt ihren neuen Namen und darf sie bald darauf besuchen, alleine.

Es folgt eine Zeit, die mir schwerfällt zu beschreiben.

Die Beiden, Mama und Papa, dürfen ihre Tochter täglich zweimal zwanzig Minuten sehen, einmal am späten Vormittag und dann am Nachmittag. Sie liegt in einem Brutkasten, Kanülen stecken in ihrer Kopfhaut, ein Schlauch in ihrer Nase. Sie wird beatmet und über ihren winzigen Schädel mit Medikamenten versorgt. Alle Gespräche mit dem verantwortlichen Arzt führt der Papa, weil er dessen Sprache passabel beherrscht.

Aber was bedeuten zwanzig Minuten, wenn man dann die Stunden, die vergehen müssen bis zu den nächsten zwanzig Minuten, zu füllen versucht mit etwas anderem als Angst.

Man sieht sie oft lange sitzen auf einer Bank im Hof des Krankenhauses. Sie reden nicht viel. Sie können sich ihre Gedanken nicht erzählen, zu zerbrechlich ist der kurze Frieden zwischen ihnen.

Alle zwanzig Minuten mit ihrer Tochter bringen neue Botschaften mit sich. Am vierten Tag uriniert das kleine Mädchen zum ersten Mal in ihrem Leben. Die Freude darüber ist verhalten. Am fünften Tag wird der Lungentubus entfernt, zu früh, wie sich dann herausstellt. Man setzt ihn wieder ein. Ihr Zustand verschlechtert sich. Am sechsten Tag gehen die Beiden in die Kathedrale um für ihr Kind zu beten, darum zu bitten, daß sie erneut pinkeln möge.

Man läßt sie nicht zu ihr am darauffolgenden Tag. Sie warten schweigend in ihrem Hotelzimmer und starren das Telefon an. Am Abend klingelt es dann. Sie dürfen bei ihr sein in den letzten Stunden ihres kurzen Lebens. Ihre kleine Brust hebt und senkt sich im Rhythmus des Beatmungsgerätes.

An einem Mittwoch nehmen sie Abschied von ihr, bevor das kleine Stückchen Mensch verbrannt wird. Sie liegt aufgebahrt in einem winzigen weißen Holzsarg in der Kapelle des Krematoriums.

An einem Dienstag kam sie zur Welt, an einem Donnerstag wird ihre Asche über den Felsen, die hinunter ragen bis hinein ins Meer,

dem Wind übergeben.

Das Paar fährt nach Hause, in ein Zuhause, in dem Dinge stehen, die jetzt keine Funktion mehr haben.